22.05.2023
Autor: Wolfgang Heumer
Es geht auffallend ruhig und entspannt zu in der Paula-Modersohn-Schule im Bremerhavener Stadtteil Wulsdorf. Kein Gerangel auf den Pausenhöfen, kein Tohuwabohu vor den Unterrichtsräumen. Einige Schülerinnen und Schüler haben sich zum Lernen in offen gestaltete Ruhezonen zurückgezogen; andere arbeiten in einem Unterrichtsraum zusammen, der speziell für die Gruppenarbeit gestaltet wurde und nichts mehr mit einem traditionellen Klassenraum bestehend aus Lehrerpult, Tafel und Stuhlreihen zu tun hat. „Wir bemühen uns, den Anteil des Frontalunterrichts kontinuierlich zu senken“, sagt Schulleiter Dr. Joachim Wolff. Genau wie die auffällig entspannte Atmosphäre ist dies ein gravierender Unterschied der Bremerhavener Stadtteilschule zu vielen anderen weiterführenden Bildungseinrichtungen in Deutschland: „Wir haben den traditionellen und wenig durchdachten Leistungsdruck durch eine Orientierung der Anforderungen an der individuellen Leistungsfähigkeit unserer Schülerinnen und Schüler ersetzt“, bringt Wolff es auf den Punkt.
„Klassischer Unterricht wird der individuellen Leistungsfähigkeit nicht gerecht“
Jeder Schüler, jede Schülerin ist anders. Das ist der Grundgedanke, auf dem das Kollegium der Paula-Modersohn-Schule seit 2008 in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess das pädagogische Konzept aufgebaut hat. „Klassischer Unterricht kann der individuellen Leistungsfähigkeit nicht gerecht werden“, ist der Schulleiter aus Bremerhaven überzeugt, „er geht weder im Tempo noch in Inhalten auf die persönlichen Möglichkeiten ein.“ Die Lehrerinnen und Lehrer aus Bremerhaven-Wulsdorf entschieden sich nach langen Überlegungen, internen kontroversen Diskussionen und intensiven Debatten mit der Schulaufsicht für einen radikalen Schritt: „Wir haben die klassische Jahrgangsstufen-Struktur durch jahrgangsübergreifende Lerngruppen ersetzt“, so Wolff. Die Begründung: „Schülerinnen und Schüler auch innerhalb eines Jahrgangs weisen häufig sehr unterschiedliche Entwicklung und Kompetenz auf.“
„Jugendliche lernen sehr schnell, dass Menschen Schwächen und Stärken zugleich haben“
In den Lerngruppen arbeiten jeweils Jugendliche aus drei Einschulungsjahrgängen zusammen. Ihre individuellen Kompetenzen wurden zuvor in eigens entwickelten Test so objektiv wie möglich festgestellt. Dass sie trotz unterschiedlicher Stärken und Schwächen in derselben Gruppe sind, gehört zu den pädagogischen Feinheiten des Konzeptes: „Die Jugendlichen lernen sehr schnell, dass Menschen Schwächen und Stärken zugleich haben“, sagt Schulleiter Wolff. Das hat einen Effekt, der in der klassischen Form des inklusiven Unterrichtes – der gezielten Förderung von Schwächeren – nicht zu beobachten ist: „Bei uns gibt es keine Stigmatisierung, weil sich scheinbar Starke auch Schwächen zeigen und scheinbar Schwache sie mit ihrer persönlichen Stärke unterstützen können.“
Für den Deutschen Schulpreis nominiert
Die Schülerin Hanna und ihr Mitschüler Tino gehören derselben Altersgruppe an und sind ein gutes Beispiel dafür, wie scheinbar Stärkere und Schwächere perfekt miteinander harmonieren können. Die „Paula“ – wie die Schule in der Stadt kurz genannt wird – ist ein beliebtes Besuchsziel für Pädagoginnen, Pädagogen sowie Bildungspolitikerinnen und -politiker aus ganz Deutschland. Auch die Nominierung für den Deutschen Schulpreis sorgt dafür, dass das Interesse an der pädagogischen Arbeit der Schule nicht nachlässt. Hanna und Tino gehören zu dem Team der rund 20 freiwilligen und extra ausgebildeten Schülerführer, die den Besuchenden Alltag und Praxis der Bremerhavener Konzeptschule zeigen. Die 13-Jährige und der 12-Jährige harmonieren perfekt miteinander – erst bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass der Junge eher zurückhaltend ist und das Mädchen zu jenen zählt, die gerne Dinge aktiv und umfassend präsentieren. Im Team ergänzen sie sich beeindruckend. Geduldig erklären beide ihren Gästen die einzelnen Bereiche der Schule, achten aufmerksam darauf, ob die Besucherinnen und Besucher Fragen haben und wofür sie sich tatsächlich interessieren. Auffallend: Anders als viele Erwachsene in einer vergleichbaren Situation fallen sich Hanna und Tino nicht ins Wort, auch wenn einer von beiden eine Information schneller zur Hand hat oder etwas besser weiß: „Wir wollen doch, dass Ihr den richtigen Eindruck von unserer Schule bekommt“, sagt Tino.
Unterricht erfordert schnelles Umdenken und jederzeit präsentes Fachwissen
Das gute Miteinander von unterschiedlichen Charakteren und Kompetenzen, das Hanna und Tino zeigen, kennzeichnet auch den Unterricht in den Gruppen – und stellt an die Lehrenden ganz andere Anforderungen als in herkömmlichen Schulen, auch wenn dort Inklusion ebenfalls zum Schulalltag gehört. Der Rundgang mit Hanno und Tino führt auch in einen Unterrichtsraum, in dem Claudia Engel und eine Kollegin vertretungsweise den Deutsch-Kurs betreuen. In diesem individualisierten Kompetenzraster-Unterricht lernen die Schülerinnen und Schüler selbstständig. Jeder hat seine eigene Aufgabe und sein eigenes Pensum für diese Stunde zusammengestellt. Der eine befasst sich mit Groß- und Kleinschreibung hinter Satzzeichen; der andere versucht den richtigen Einsatz des Dehnungs-H zu begreifen; eine Schülerin ergründet die Grundregeln des richtigen Satzbaus. „Im klassischen Frontalunterricht wäre diese Bandbreite überhaupt nicht darstellbar“, sagt Claudia Engel, während sie von Gruppentisch zu Gruppentisch geht. Jede Frage, die sie dort beantwortet, jede Hilfestellung, die sie gibt, bezieht sich auf einen anderen Aspekt der variantenreichen deutschen Sprache. Das erfordert schnelles Umdenken und jederzeit präsentes Fachwissen. „Das ist manchmal anstrengend, aber es macht aber auch den Reiz dieser Schulformen aus“, sagt Claudia Engel.
Mit Flüsterpunkten zur praktizierten Teamarbeit
Schnell wird bei dem Schulbesuch deutlich, dass eine hohe Motivation der Beteiligten wesentlich für den Erfolg des Schulmodells ist. Nicht nur bei den Lernenden und Lehrenden: „Auch die Eltern stehen hinter uns, weil sie auch zuhause die positive Wirkung des Unterrichts sehen“, ist Schulleiter Wolff überzeugt. Das mag auch daran liegen, dass die Schule immer wieder ungewöhnliche Wege zum Ziel geht. So ist es nicht etwa ermahnenden Worten der Lehrenden zu verdanken, dass es so entspannt und ruhig in der „Paula“ zugeht. Hier kümmern sich Schülerinnen und Schüler umeinander. Es gibt Streitschlichter, Schulsanitäter, die Schülerinnen und Schüler helfen an der benachbarten Grundschule aus und lesen in der Kita nebenan vor. Jede Lerngruppe hat die Chance, während des individualisierten Kompetenzraster-Unterrichts Flüsterpunkte zu sammeln. Kleine Sensoren in den Lehr-Räumen zeigen die Lautstärke an. Wird es zu lebhaft, leuchten die Geräte über den Gruppenarbeitsplätze rot; grün signalisiert die für erfolgreiches Lernen notwendige Ruhe Konzentration. Ist es langanhaltend ruhig, gibt es die Flüsterpunkte, die gegen eine Gruppenstunde auf dem schulinternen Kletterparcours getauscht werden können. Auch hier gilt das Prinzip der gelebten Inklusion: „Den kann man nur bewältigen, wenn scheinbar Starke und sich alle mit ihrem unterschiedlichen Können gegenseitig helfen“, weiß Tino.
Kontakt für Redaktionen:
Dr. Joachim Wolff, Leiter der Paula-Modersohn-Schule Bremerhaven, Tel.: 0471590-4481, Mail: p.modersohn@schule.bremerhaven.de, Internet: www.paula-modersohn-schule.de und www.youtube.com/Paula-Modersohn-Schule
Bildmaterial:
Das Bildmaterial ist bei themengebundener Berichterstattung und unter Nennung des jeweils angegebenen Bildnachweises frei zum Abdruck.
Foto 1: Die Paula-Modersohn-Schule in Bremerhaven setzt auf innovative Konzepte in der Inklusion: Klassische Jahrgangsstufen werden durch jahrgangsübergreifende Lerngruppen ersetzt. © Jörg Sarbach
Foto 2: Offen gestaltete Ruhezonen zum Lernen sind ein wichtiger Bestandteil des Inklusions-Konzepts in der Paula-Modersohn-Schule. © Jörg Sarbach
Foto 3: Hanna und ihr Mitschüler Tino gehören derselben Altersgruppe an und sind ein gutes Beispiel dafür, wie scheinbar Stärkere und Schwächere im Schulalltag perfekt miteinander harmonieren können. © Jörg Sarbach
Foto 4: Dass Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Stärken und Schwächen an der Paula-Modersohn-Schule in einer Gruppe sind, gehört zu den pädagogischen Feinheiten des Konzeptes: „Die Jugendlichen lernen sehr schnell, dass Menschen Schwächen und Stärken zugleich haben“, sagt Schulleiter Dr. Joachim Wolff. © Jörg Sarbach
Foto 5: Die Paula-Modersohn-Schule in Bremerhaven geht ungewöhnliche Wege in der Inklusion und war bereits für den Deutschen Schulpreis nominiert. © Jörg Sarbach
________________________________________
Der Pressedienst aus dem Bundesland Bremen berichtet bereits seit Juli 2008 monatlich über Menschen und Geschichten aus dem Bundesland Bremen mit überregionaler Relevanz herausgegeben von der WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH. Bei den Artikeln handelt es sich nicht um Werbe- oder PR-Texte, sondern um Autorenstücke, die von Journalisten für Journalisten geschrieben werden. Es ist erwünscht, dass Journalistinnen und Journalisten den Text komplett, in Auszügen oder Zitate daraus übernehmen.
Bei Fragen schreiben Sie einfach eine E-Mail an pressedienst@wfb-bremen.de.